Musik der Renaissance in Deutschland

Musik der Renaissance in Deutschland
Musik der Renaissance in Deutschland
 
Eine profilierte Musikkultur entwickelte sich in Deutschland später als in Westeuropa und in Italien. Im Unterschied zur deutschen Literatur und Malerei, die schon im Mittelalter eine bedeutende Tradition entfalteten, konnte die Musik der Renaissance in Deutschland nicht im vergleichbaren Maß an ältere Vorbilder anknüpfen. Frankoflämische Musiker bestimmten zunächst die musikalische Praxis. Messe und Motette blieben längere Zeit das kompositorische Vorbild. Erst im späten 15. Jahrhundert nahm die Zahl deutscher Komponisten zu, und es zeigten sich Ansätze zu eigenen Gattungsbildungen.
 
Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts mehrten sich immerhin, als Folge institutioneller und gesellschaftlicher Wandlungen, die Impulse, die zu einem rasch anwachsenden deutschen Musikleben führten. Träger dieses Musiklebens waren die neu gegründeten Hofkapellen der deutschen Fürsten, unter denen die Hofkapelle Kaiser Maximilians I. eine führende Stellung einnahm, ferner das aufstrebende Bürgertum in den Städten, die Lateinschulen und der vom Humanismus geprägte gelehrte Stand an den Universitäten.
 
Neue Formen und Gattungen entstanden vor allem in zwei Bereichen: zum einen in der protestantischen Kirchenmusik, zum anderen, etwa 50 Jahre früher, innerhalb der Entwicklung des deutschen Liedes. Gerade auf diesem Gebiet zeigt sich etwas spezifisch Deutsches, das nicht leicht zu beschreiben ist, das aber musikhistorisch eine große Rolle gespielt hat. Zwar besitzen alle Völker eine eigene, ihnen gemäße vokale Tradition. Doch sind diese Traditionen in unterschiedlicher Weise überregional wirksam geworden. Das Besondere des deutschen Liedes liegt vielleicht darin, dass es mit bestimmten charakteristischen Merkmalen die Kunstmusik in ihren unterschiedlichsten Phasen und Erscheinungsformen beeinflusst hat. Liedanregungen und Liedelemente sind in der Gesellschaftskunst der Renaissance, im Generalbasslied des Barock, in der ersten und zweiten Berliner Liederschule nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, in der Oper und in der Instrumentalmusik der Wiener Klassik (und später) sowie im deutschen Klavierlied seit Franz Schubert von eminenter stilistischer Bedeutung. Was damit gemeint ist, können Begriffe wie »schlicht«, »einfach«, »innig«, »gemüthaft«, »naiv« allenfalls andeuten. »Kantabilität«, »Reihung«, »strophische Gliederung«, »Geschlossenheit«, »Periodizität« und ähnliche Merkmale versuchen, das »Liedhafte« kompositonstechnisch zu beschreiben. Geltend macht es sich immer dort, wo kunstvolle musikalische Gestaltung die Rückbindung an das Volkslied durchscheinen lässt. Und dies eben ist ab etwa 1450 in Deutschland erstmals deutlich zu beobachten.
 
Die schriftliche Überlieferung des mehrstimmigen deutschen Liedes wächst heraus aus einer verbreiteten einstimmigen Liedkultur. Die zwei- und dreistimmigen Liedbearbeitungen in den ersten handschriftlichen Liederbüchern des 15. Jahrhunderts bilden dementsprechend nur einen Teil ihres Repertoires. Daneben stehen einstimmige Lieder, Quodlibets, fremdsprachliche Vokalwerke und liedhafte Instrumentalsätze. Die wichtigsten Quellen dieser ältesten Schicht des deutschen Liedes sind das »Lochamer Liederbuch« (niedergeschrieben 1452-60), das »Schedelsche Liederbuch« (etwa 1460-67) und das »Glogauer Liederbuch« (um 1480). Eine Reihe charakteristischer Beispiele aus der frühen deutschen Liedgeschichte, darunter so bekannte Lieder wie »Ach Elslein, liebstes Elslein mein« oder »All mein Gedanken, die ich hab«, mit ihren einfachen, der mehrstimmigen Improvisation noch nahe stehenden Sätzen, sind uns aus diesen Aufzeichnungen erhalten.
 
Eine entwickeltere Stufe repräsentieren die Lieddrucke des frühen 16. Jahrhunderts, unter ihnen die von Erhard Oeglin (1512), Peter Schöffer (1513), Arnt von Aich (1520), Hans Ott (1534 und 1544), Christian Egenolf (1535) und Georg Forster (5 Bände, 1539-56). Der vorherrschende Liedtypus dieser Zeit war das Tenorlied. Es stellt in seiner Verbindung von schlichtem Liedprinzip und kunstvoller Verarbeitung den selbstständigsten Beitrag Deutschlands zur Vokalmusik der Zeit dar. Die Liedweise, volksliedhaften oder höfischen Ursprungs, liegt als Cantus firmus im Tenor, gelegentlich in der Oberstimme. Sie ist weitgehend unverändert und bestimmt durch ihren Charakter und ihre Struktur die Anlage des meist vierstimmigen Liedsatzes. Die übrigen Stimmen umspielen den Cantus firmus und bereiten oft Zeile für Zeile dessen Einsatz vor. Detaillierte Wortausdeutung kannte das Tenorlied kaum. Es ist primär auf einen Gesamteindruck angelegt, der sich aus dem »Ton« seiner Weise ergibt und der sich auch den übrigen Stimmen mitteilt. Diese sind in den frühen Drucken ohne Text notiert. Es handelte sich also um instrumental begleitete Sololieder. Erst seit der Sammlung von Georg Forster wurde die Textierung aller Stimmen üblich, was die instrumentale Ausführung natürlich nicht ausschließt.
 
Bemerkenswert für diese Periode der deutschen Liedgeschichte ist die stilbildende Rolle der Hofkapelle Kaiser Maximilians I.. Paul Hofhaimer war dort Hoforganist, Heinrich Isaac - von ihm stammt »Innsbruck, ich muss dich lassen« - bekleidete seit 1497 das Amt des Hofkomponisten, sein Schüler Ludwig Senfl wurde 1517 sein Nachfolger. Senfl, dessen etwa 250 deutsche Liedsätze den ganzen Reichtum der Gattung entfalten, ging 1523 nach München. Seitdem wurde die Münchner Hofkapelle zu einem weiteren Zentrum der deutschen Musik, vor allem in den fast vier Jahrzehnten, in denen Orlando di Lasso (seit 1556) dort wirkte. Ähnliches Ansehen erlangten die Hofkapellen Friedrichs des Weisen in Torgau - unter anderem mit Adam von Fulda - und Ferdinands I. in Wien mit Heinrich Finck und Arnold von Bruck. Als Liedkomponisten zu nennen sind außerdem der Schüler Fincks, Thomas Stoltzer, der 1522 Leiter der ungarischen Hofkapelle in Ofen wurde, der in Konstanz tätige Sixtus Dietrich, der als Anhänger der Reformation Vorlesungen in Wittenberg hielt, und Caspar Othmayr, der die deutsche mehrstimmige Liedkunst nach Senfl noch einmal auf einen Höhepunkt führte.
 
Nach der Mitte des 16. Jahrhunderts endete die Blütezeit des Tenorlieds. Neue Strömungen, in erster Linie das Madrigal und die Villanella aus Italien, gewannen Einfluss auf das deutsche polyphone Lied. Entwickelte Textdeklamation, bewegliche Satztechnik und freie, nicht mehr zeilenmäßig gebundene Anlage finden sich erstmals bei Orlando di Lasso (»Neue teutsche Liedlein«, 1567), der damit einen durchgreifenden Gattungswandel einleitete. Weitere Komponisten dieser späten Stilphase waren der Italiener Antonio Scandello (Kapellmeister in Dresden), Jakob Regnart(Kapellmeister Ferdinands II. in Innsbruck) mit seinen dreistimmigen villanellenartigen Liedern, ferner die Lasso-Schüler Leonhard Lechner (seit 1595 Hofkapellmeister in Stuttgart) und Johannes Eccard (seit 1586 Kapellmeister in Königsberg und seit 1608 kurfürstlicher Kapellmeister in Berlin) sowie der in Venedig bei Giovanni Gabrieli ausgebildete Hans Leo Haßler. Dessen Sammlungen »Neue Teutsche gesang nach art der welschen Madrigalen und Canzonetten« (1596) und »Lustgarten Neuer Teutscher Gesäng/Balletti, Gaillarden und Intraden« (1601) waren stilbestimmend für die weitere Entwicklung des frühbarocken geselligen Liedes in Deutschland.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Besseler, Heinrich: Die Musik des Mittelalters und der Renaissance. Lizenzausgabe Laaber 1979.
 Bowles, Edmund A.: Musikleben im 15. Jahrhundert. Leipzig 21987.
 
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter Schnaus. Mannheim u. a. 1990.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertson und Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.
 
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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